Was bedeutet es für ein Kind, wenn es seine Heimat verlassen muss? Ein kleines Mädchen, genannt Wildfang, muss vor dem Krieg fliehen. Im neuen Land ist es in Sicherheit doch all das Fremde – die Menschen, ihre Sprache, einfach alles – bereitet ihm Angst. Das einst so lebendige Kind ist nun still und unsicher. Zuhause kann überall sein? Für das Kind kaum vorstellbar …
Ausgelassen turnt ein Mädchen, von ihrer Tante liebevoll „Wildfang“ genannt, mit nackten Füßen über die erste Buchseite. Mit ihrer dunklen Hautfarbe und der kräftig-orangen Kleidung verschmilzt sie förmlich mit ihrer Umgebung. Eine gelbe Graslandschaft und ockerfarbene Lehmhütten im Hintergrund lassen die Heimat des Kindes erahnen, auch wenn sie nirgends benannt wird. Die orange-rot-Töne des gesamten Bildes strahlen Geborgenheit, Wärme und Sicherheit aus. Aber der Schein trügt, ein Krieg zwingt das Mädchen und ihre Tante zur Flucht.
Auf der nächsten Seite befindet sich das Kind neben der Tante mitten unter Menschen, die anders aussehen und eine andere Sprache sprechen als die beiden. Fremde. Einsamkeit. Klein und still steht das einst so lebendige Kind im neuen Land. Die fremd klingenden Worte prasseln wie ein kalter Wasserfall auf das Kind ein, das sich zurückzieht. Symbolisch sucht es Schutz unter einer Decke aus den vertrauten Worten und Geräuschen der Heimat.
Auf einem Spaziergang begegnet das Kind einem anderen Mädchen, das freundlich auf „Wildfang“ zugeht und ihm dabei hilft, sich allmählich wieder zu öffnen und die neue Sprache zu erlernen.
So klingen deren Worte bald ebenso vertraut wie die von „Wildfangs“ Muttersprache. Aus den neuen Worten webt es eine zweite Decke und hat somit zwei unterschiedliche Decken, die sich beide vertraut anfühlen und zwischen denen es wählen kann. Die Herkunft mit all ihren Werten, Traditionen und ihrer Kultur bleibt dem Kind erhalten und muss nicht zugunsten einer fragwürdigen Integration abgelegt werden – wunderbar.
Nach der Flucht im neuen Land
„Zuhause kann überall sein“ ist ein warmherziges Bilderbuch, das die Erlebnisse im Krieg und auf der Flucht ausblendet und statt dessen den Fokus auf das Erleben im Ankunftsland unmittelbar nach der Flucht legt. Das Bilderbuch zeigt eindrucksvoll, wie fremd, hilflos und einsam sich ein Mensch fühlen kann, wenn er alles Vertraute hinter sich lassen muss. Gleichzeitig ermutigt es, die Herausforderung anzunehmen und sich gegenüber dem Fremden zu öffnen. Da weder Namen, Nationalitäten oder andere Hintergründe genannt werden, sind die Erlebnisse des Kindes universell und vielfältig übertragbar.
„Zuhause kann überall sein“ in der Kita
Eine Bilderbuchbetrachtung mit „Zuhause kann überall sein“ ist eine sehr gute Grundlage, um Empathie und Verständnis für geflüchtete Kinder zu wecken. Der Inhalt ist auf das Erleben des Fremdseins/ der Isolation sowie die Schwierigkeiten, die sprachliche Barrieren mit sich bringen, reduziert. Das verstehen bereits Kindern im Kindergartenalter ab ungefähr 5 Jahren.
Die Bilder sind sehr ausdrucksstark. Die wechselnde Farbgebung, die Körperhaltung und die Darstellung der Mädchen sprechen für sich, wodurch eine reine Bildbetrachtung ohne den Text ebenso denkbar wäre. „Zuhause kann überall sein“ eignet sich für das dialogische Bilderbuchlesen.
„Zuhause kann überall sein“ im Unterricht in der Grundschule
Obwohl die Altersempfehlung des Verlages bei 5-7 Jahren liegt, sind Grundschulkinder für dieses Bilderbuch keinesfalls zu alt. Es bieten sich verschiedene Möglichkeiten an, wie man das Buch im Unterricht in der Grundschule nutzen kann. Bisher wurde für „Zuhause kann überall sein“ kein Unterrichtsmaterial veröffentlicht, daher stelle ich einige Ideen vor, die ihr im Unterricht oder für ein Projekt ausbauen könnt.
Was bedeutet Heimat?
Der Verlust der Heimat ist für das Mädchen namens „Wildfang“ traumatisch. Die unbeschwerte Kindheit ist schlagartig beendet und das Mädchen empfindet die neue Umgebung zunächst als fremd und bedrohlich. Der freundschaftliche Kontakt zu einem anderen Mädchen hilft ihr, damit das neue Zuhause allmählich vertrauter wird.
Eine Schlüsselrolle nimmt hierbei die Sprache ein. Heimat ist für sie mit vertrauten Worten und Geräuschen, mit bekanntem Essen und bestimmten Tieren und Pflanzen verbunden. Auf unterschiedlichen Wegen können die SchülerInnen herausfinden, was das Mädchen „Wildfang“ mit ihrer Heimat assoziiert.
- Die SchülerInnen betrachten die erste Bilderbuchdoppelseite, auf der das Kind in seiner Heimat abgebildet ist. Gemeinsam überlegen sie, welche Dinge das Mädchen mit seiner Heimat verbindet.
- Den SchülerInnen wird der Text vorgelesen. Was erfährt man darin über die Heimat des Mädchens?
- Die SchülerInnen stellen die befremdlichen Dingen den vertrauten aus der Heimat des Mädchens gegenüber. So kann wechselseitig ergänzt werden.
Der englischsprachige Originaltitel des Buches lautet „My two blankets“ und aus dem nächsten Absatz wird ersichtlich, warum ich diesen für treffender halte. Die deutsche Übersetzung wirft die spannende Frage auf, ob „Heimat“ dasselbe wie „Zuhause“ ist. Was meint ihr?
Eine Decke aus Worten
In der Fremde sucht das Kind Schutz unter einer rot-orangen Decke, die aus den vertrauten Worten der Heimat gewebt ist. Dieses Bild ist wunderbar und Kindern leicht zugänglich. Gleichzeitig bietet es geradezu eine Steilvorlage für die Wortschatzarbeit mit Flüchtlingskindern, die sich problemlos zu einem umfangreichen Projekt ausbauen lässt. So können die Kinder einzeln oder in Gruppen eine Wörter-Decke mit vielen, für sie bedeutsamen Worten entwickeln. Sofern die einzelnen Kinder davor keine Scheu haben, können sie ihre Wort-Bilder hinterher vorstellen und erklären, warum ihnen ausgerechnet diese wichtig sind.
Das erfordert ein wenig Fingerspitzengefühl, damit niemand emotional überfordert wird. Da viele Flüchtlingskinder vor und während der Flucht traumatischen Erlebnissen ausgesetzt waren, ist es ratsam, nicht prinzipiell Wörter aus der Heimat, sondern Wörter, die dem Kind gut tun, die ihm vertraut und angenehm sind, zu wählen.
Weitere Unterrichtsvorschläge:
Deutsch/ Ethik: Im Sitzkreis stellt jedes Kind ein Wort vor, dass er dem Mädchen „Wildfang“ beigebracht hätte und begründet diese Wahl. In Anknüpfung an die Bilderbuchillustration kann dieses Wort als Bild, Origamifigur oder in anderer Weise gemalt/gebastelt werden. Dieses Vorgehen bietet sich besonders in mehrsprachigen Gruppen an, in denen allein sprachbasiertes Arbeiten schwierig ist.
Deutsch: Eins der gewählten Worte wird in mehrere Sprachen übersetzt. Die Kinder beschreiben, wie sie den Klang des Wortes jeweils wahrnehmen. Hierfür ist es günstig, wenn Kinder mit unterschiedlichen Muttersprachen anwesend sind.
Kunst: Wie spiegeln sich die Gefühle des Mädchens in den Bildern wider? – Wie bereits erwähnt sind die Illustrationen sehr ausdrucksstark, wobei insbesondere mit Farb- und Formkontrasten gearbeitet wurde.
Ethik/ Philosophie: Was denken die SchülerInnen dazu, dass das Mädchen am Ende zwei Decken hat? Gefällt ihnen diese Vorstellung? Oder hätten sie es lieber, wenn das Mädchen eine Decke hat, die aus alten und neuen Worten gemeinsam gewebt wurde? – Hieraus kann sich ein spannendes philosophisches Gespräch entwickeln, bei dem es bewusst oder unbewusst um Inklusionsvorstellungen geht.
Irena Kobalt (Autorin) & Freya Blackwood (Illustratorin):
Zuhause kann überall sein
Knesebeck Verlag 2017
ISBN 978-3-86873-757-8
32 Seiten * gebundene Ausgabe 12,95 € [D] * Altersempfehlung: 5-9 J.
Vielen Dank für diese tolle Buchvorstellung! Ein wirklich wichtiges Buch zurzeit und ich finde es grandios, wie vielfältig es einsetzbar ist. Gerade Kinder haben in der Fremde viel zu verarbeiten und brauchen Hilfe. So schnell sie sich anpassen können so schnell können sie sich aber auch ungeliebt und unerwünscht fühlen.
Das Buch habe ich mir gemerkt.
GlG vom monerl
Ja, bei diesem Buch war mir eine ausführliche Vorstellung wichtig. Danke für deine lieben Worte!