Märchen in Buch und App – Früher war alles besser?

Die Hausmärchen der Gebrüder Grimm gibt es nicht nur in Büchern, Hörbüchern und Filmen, auch in Apps sind Rotkäppchen und Schneewittchen mittlerweile unterwegs. Zerstören wir damit unser gutes, altes Kulturgut?

Märchen haben in unserer Kultur eine lange Tradition. Sie sind für viele mit Erinnerungen an die frühe Kindheit verbunden und Märchen wie „Hänsel und Gretel“ haben besonders zur Winter- und Weihnachtszeit seit Jahrzehnten Konjunktur. Im deutschsprachigen Raum gehören die „Kinder- und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm zu den bekanntesten. Es sind sogenannte Volksmärchen, die aus mündlichen Überlieferungen stammen. Jacob und Wilhelm Grimm haben sie im Auftrag von Clemens Brentano zusammengetragen und später selber veröffentlicht, allerdings in mehreren Variationen.

Die ersten Ausgaben der Hausmärchen waren keinesfalls für Kinder gedacht, sondern das Ergebnis ihrer sprachwissenschaftlichen Forschertätigkeit. Später kamen Illustrationen hinzu, wissenschaftliche Anmerkungen verschwanden und die Texte wurden angepasst, indem insbesondere sexuelle Anspielungen und Gewalt abnahmen. Damit nahmen die Märchen der Gebrüder Grimm ihren erfolgreichen Lauf und gehören heute noch zu den weltweit meistverkauftesten Kinderbüchern.

Der Begriff „Volksmärchen“ ist übrigens irreführend, da Märchen keine Erzählungen vom einfachen Volk, sondern aus bürgerlichen Kreisen sind. Viele stammen von jungen Mädchen zwischen 16 und 18 Jahren, die teils französischen Ursprungs waren. Es sind daher europäische Volksmärchen und keine deutschen (das ist vor allem im Kontext ihrer Entstehungszeit interessant).

Märchen im Bilderbuch

Wie schon erwähnt waren die Volksmärchen von Beginn an einem starken Wandel unterzogen. Dieser Trend setzt sich bis heute fort, indem Märchen in verschiedenen Medien immer wieder neue Abwandlungen erfahren. Bekannte Beispiele hierfür sind Filme wie „Rapunzel neu verföhnt“ oder das Bilderbuch „Schneewittchen“ von Benjamin Lacombe.

Allein bei den Bilderbüchern gibt es sehr gelungene, wirklich innovative Interpretationen der bekannten Märchen. Interessant ist daran, dass diese zunehmend für Erwachsene geschrieben und illustriert werden. Märchen waren ursprünglich ausschließlich für Erwachsene bestimmt, wurden später für Kinder umgeschrieben und der neueste Trend ist teilweise wieder gegenläufig – zumindest bei den Büchern.

Rumpelstilzchen Bilderbuch, Märchenbilderbuch, Scherenschnitt, Knesebeck VerlagIm Knesebeck Verlag sind mehrere Märchen als schöne Scherenschnitt-Bücher erschienen. Diese gehen natürlich schnell kaputt und sind daher nur mit großer Vorsicht für Kinderhände geeignet.

 

Schneewittchen von Benjamin Lacombe, ein Märchenbuch für Erwachsene von Jakoby & Stuart„Schneewittchen“ von Benjamin Lacombe wirkt auf viele Kinder bedrohlich. Die unglaublich ausdrucksstarken Bilder sind faszinierend und voller Anspielungen, für ältere Leser eigentlich Pflichtlektüre im Bereich Märchen.

 

Rotkäppchen Bilderbuch ohne Text, Märchenbilderbuch

Dieses Buch habe ich bereits in meinem Artikel „Bilderbücher ohne Text“ aufgegriffen – einmal hier entlang bitte: Bilderbücher ohne Text – da es ausschließlich Bilder enthält. Diese sind sehr ungewöhnlich und irritieren.

 

Roberto Innocenti ist Kennern ebenfalls ein Begriff und auch dieses Märchenbuch ist in Wort und Bild nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene interessant.

Märchen trifft auf Moderne

Neue Medien kommen und gehen, Märchen aber bleiben. Offensichtlich überstehen sie jeden Medienwandel. Nach Buch, Hörbuch, Film und klassischem Spiel treffen wir auch in digitalen Medienformaten auf Rotkäppchen und Rapunzel.

Leyo! – Bilderbuch mit App

Leyo! ist eine Kombination aus App und Bilderbuch, also ein Format, dass Buch und Smartphone/Tablet miteinander verbindet. Die Leyo!-App kann kostenlos heruntergeladen werden, vergleichsweise teuer sind die Leyo! Bücher vom Carlsen Verlag, mit denen diese Anwendung funktioniert.

Unter den Leyo! Büchern ist auch ein Märchenbuch mit dem Titel „Mein großer Märchenschatz“. Es ist ein großformatiges Bilderbuch, in dem auf jeder Doppelseite jeweils ein Märchen in einzelnen Sequenzen abgebildet ist. Darunter befindet sich eine verkürzte Version des Textes. Mit der App können interaktive Elemente im Buch zum Leben erweckt werden, die bei der reinen Buchbetrachtung nicht zu sehen sind.

Dafür müssen Smartphone oder Tablet genau über das Buch gehalten werden und genau hier liegt der Schwachpunkt des ganzen Systems. Bleibt die Kinderhand dabei nicht ruhig genug, springt die App von Element zu Element und der Sprecher erzählt ziemliches Durcheinander. Buchliebhaber kritisieren außerdem, dass Kinder nicht mit dem Buch, sondern zu viel mit dem Bildschirm des Mobilgerätes beschäftigt sind.

Egal ob Fraktion Buch oder App die Umsetzung von Leyo! weist Mängel auf und konnte sich deswegen nicht durchsetzen. An den Märchen der Gebrüder Grimm lag das jedenfalls nicht.

Märchen-Apps

Wer im App Store das Schlagwort „Märchen“ eingibt, findet eine Vielzahl an Vorschlägen, aus denen er wählen kann. Märchen sind in digitalen Varianten ebenfalls beliebt. Viele Märchen-Apps sind eine Mischung aus Bilderbuch und Spiel. Es fällt auf, dass viele Märchen-Apps einen direkten Rückbezug auf das Medium Buch haben, indem ein Märchenbuch abgebildet ist, in dem geblättert wird. In der Regel kann das Kind wählen, ob es sich das Märchen vorlesen lässt oder den Text selber liest. Sowohl die Qualität des Textes als auch die Erzählerstimme sind ja nach App von sehr unterschiedlicher Qualität.

Märchen-Apps gehen natürlich über die reine Märchenerzählung hinaus, andernfalls wären es E-Books. Meist werden durch das Berühren bestimmter Punkte Animationen und Effekte ausgelöst. Einige Apps bietet zusätzliche Spiele, Puzzle und Rätsel mit den Bildern und Figuren des Märchens.

Mit meiner Vorliebe für schön illustrierte Bilderbücher gefallen mir die Mehrheit der Illustrationen in den Märchen-Apps überhaupt nicht. Meine Tochter hingegen sieht die Sache anders. Für sie sind die interaktiven Elemente und Spiele sowie der Inhalt der Erzählung wichtiger und sie schaut unvoreingenommen, was sie mit der App alles tun kann.

Früher war alles besser?

Märchen wurden früher mündlich erzählt und weitergetragen. Mit dem Buchdruck und dem Buch als Massenmedium wandelte sich dies, immer noch war das gemeinsame Vorlesen, das Beisammensein untrennbar mit Märchen verbunden. Wenn Kinder mit einer Märchen-App hantieren, entsteht eine völlig andere Situation, in der das Kind mit der App und deren Bedienung alleine ist. Das höchste der Gefühle sind kurze Ausrufe wie: „Mama, schau mal, was der Wolf hier macht!“. Früher war alles besser, oder? Stimmt aber nicht. Aus verschiedenen Gründen.

Märchen sind nichts für Kinder?!

Sind die Märchenerzählungen aus Büchern überhaupt für Kinder geeignet? Das ist eine Frage, die kontrovers diskutiert wurde und wird. Dabei geht es vor allem darum, ob Kinder die Symbolik hinter den Grausamkeiten verstehen und davon überfordert sind oder nicht. Das ist sicherlich vom jeweiligen Kind abhängig, wir haben Märchen deutlich später als andere Familien vorgelesen, weil ich sie als Kind gruselig fand und hinterher Angst hatte.

Die von Wissenschaftlern gerne vertretene Position, Märchen wären lediglich eine Projektionsfläche für Kinderängste und diese können in der gemeinsamen Erzählsituation aufgelöst werden, zweifle ich mit meinen subjektiven Erfahrungen an.

Rollenklischees und Zuschreibungen in Märchen

Sehr störend empfinde ich die tradierten Rollenmuster, Zuschreibungen und pädagogischen Ansichten in Märchen. Der böse Wolf, die fiese Stiefmutter, der edle Prinz, der tapfere Held und die liebliche Prinzessin… Hier werden Klischees weitergegeben, die ich Kindern nicht unreflektiert vermitteln möchte. Das Zauberwort lautet aus meiner Sicht „Reflexion“. Ab einem bestimmten Alter sind Kinder sicherlich in der Lage, die Symbolik bewusst wahrzunehmen und die Märchen im Kontext ihrer Entstehungszeit einzuordnen.

Märchen-Apps bieten, da sie nicht streng an der Erzählung festhalten, gerade für jüngere Kinder großartiges Potential (Märchen-Apps haben als Zielgruppe Kinder im Alter von 3-6 Jahren). Ein sehr gutes Beispiel dafür ist die App „Rotkäppchen“ vom Carlsen Verlag. Rotkäppchen ist nicht der Situation ausgeliefert, sondern das Kind kann mit verschiedenen Anwendungen den Wolf bei seinen Taten stören und so am Ende alle befreien. Getötet wird das Tier übrigens auch nicht. Diese Variante bietet Kindern eine viel bessere Möglichkeit, sich als wirksam und kompetent gegenüber Ängsten und Bedrohungen zu erleben, als es die Erzählsituation mit dem Märchenbuch kann.

Märchen im Wandel

Märchen waren schon immer einem starken Wandel unterzogen. Das begann bereits mit deren Niederschrift, denn wie bereits erwähnt, handelt es sich im klassischen Sinne um eine mündliche Erzählung und bereits die Gebrüder Grimm begannen, diese zu verändern. Der starke Wandlungsprozess hat den Vorteil, dass Märchen über die Zeiten hinweg stets neu angepasst und damit weitergetragen wurden.

Während meine Generation sich noch über Bücher aus ihrer Kindheit unterhalten kann, da es eine erhebliche Schnittmenge gemeinsamer Kinderbücher gab, sieht das heute anders aus. Es erscheinen mittlerweile so viele Kinderbücher auf dem Markt, dass es nur wenige gibt, die viele Kinder lesen. Damit gehen gemeinsame Kindheitserinnerungen verloren. Märchen-Apps tragen neben anderen Medien dazu bei, die Hausmärchen der Gebrüder Grimm in ihren Grundzügen als gemeinsames Kulturgut weiterzutragen.

Ihr lest hier auf Kinderbuch-Detektive.de einen Kinderbuchblog, das heißt ich schätze den Wert von Büchern, dem Vorlesen und Lesen sehr hoch ein. Dennoch finde ich es nicht wünschenswert, sich einem Fortschritt und Veränderungsprozessen entgegen zu stellen. Einst waren es gedruckte Bücher, die verteufelt wurden, heute sind es multimediale Anwendungen, mit denen Kinder umgehen. Wer diese von Kindern fern hält und meint, sie damit zu schützen, „verAppelt“ sich wohl selbst.

Dieser Artikel ist mein Beitrag zum Blog Award „Kinder und (digitale) Medien: Früher war alles besser?!“. Mehr dazu erfahrt ihr hier. #medienmomente

Wer mag, kann mir gerne einen Kommentar hinterlassen, darüber freue ich mich sehr. Lest ihr euren Kindern Märchen vor? Wenn ja, ab welchem Alter? Was haltet ihr von Märchen-Apps?

3 Gedanken zu „Märchen in Buch und App – Früher war alles besser?“

  1. Liebe Anna, ich bin sehr froh, auf diesen Beitrag gestoßen zu sein! Ich wollte Kinderbücher für meine Nichten bestellen und stieß auf eine traditionelle Märchensammlung. Dabei dachte ich selber an meine ersten Bücher zurück und besonders an die Märchen, welche ich heute aus einem ganz anderen Licht betrachten würde als damals. Einige der Geschichten haben, wie du bereits beschrieben hast, tatsächlich Aspekte, die man heute hinterfragen kann. Ich würde mich trotzdem gerne auf traditionelle Kinderbücher statt digitale Versionen fokussieren und weiß daher auch deine Tipps am Anfang des Beitrags sehr zu schätzen.

  2. Unser Kleiner darf zwei Apps nutzen, allerdings handelt es sich um Sprach-Apps. Kinderbücher kaufen wir uns nur als Bücher. Finde es sehr wichtig, dass die Kinder die Bücher in der Hand halten ? Medien kommen später noch.

    Märchen haben wir bis jetzt nicht viele gelesen. Es gibt aber durchaus coole Märchen. Danke für deine Inspo =)

    1. Liebe Olga,
      vielen Dank für deine Einblicke. Bei uns sind Bilderbuch-Apps kein Ersatz für Bilderbücher, sondern eine Ergänzung. Ich bin da auch etwas nostalgisch und konnte mich neben dem Tablet bisher nicht mit einen E-Book-Reader anfreunden, da fehlt einfach etwas. Zum Sprachenlernen sind Apps und andere digitale Angebote absolut perfekt!

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